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Erwin Wortelkamp

Vielleicht ein Baum

1976
4-teilig
520 × 97 × 100 cm
135 × 63 × 62 cm
286 × 65 × 70 cm
153 × 50 × 56 cm
Eisen

Erwin Wortelkamp
*1938 in Hamm/Sieg
lebt in Hasselbach und Acquaviva Picena (I)

››› https://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Wortelkamp

Fast ganz oben auf der östlichen Flanke des ›Tals‹, auf flach ansteigender Wiese und etwas entfernt von einigen, das Terrain gliedernden Bäumen, Büschen, Zäunen, auf kahlem Platz also, an dem man dem Himmel nah ist, und wo der Wind in langer Strömung atmet, hier ist diese mehrteilige Arbeit aus geschweißten Eisenblechen aufgebaut. Bei Trockenheit ist sie von spröder Düsternis, bei Nässe glänzend schwarz.

Von verschiedenen Stellen des ›Tals‹ aus sieht man sie, manchmal nur einzelne Teile, man sieht sie als den Horizont übersteigende Silhouette. Zwar aufgerichtet und doch zur Seite geneigt, zwar steil in den Himmel gestoßen und doch aus der Senkrechten heraus. Ein bewegtes Ensemble von plastischen Gebärden, die alle auf ein Oben zielen und es nicht erreichen.

Die Arbeit heißt Vielleicht ein Baum und dieser Titel irritiert. Denn die paar Werk-Elemente spielen so eindeutig mit dem Motiv des gewachsenen Baums – wozu dann also das ›Vielleicht‹?

Entastete Bäume, sockellos aus dem Wiesengrund wachsend und dadurch unmittelbar im Hier des Terrains. Rundliche Körper, die in den Raum aufsteigen und ihn zwischen sich künstlich machen, zugänglich für die ästhetische Erfahrung und ihr unvermeidliches Bedeuten. Aber was bedeuten sie? Diese verschieden hohen und starken Stämme aus Eisen sind so bauchig, gebuckelt, gemuldet, borkig geschuppt wie wirkliche Bäume, die sich in Jahren gewunden, gedreht, gebeugt haben und in Wetter und Wind zur Form geworden sind, die ihr Schicksal in der Zeit beschreiben – geht es demnach um das, um die Darstellung des Gleichgewichts zwischen den generellen Wachstumsenergien der Natur und den jeweiligen Standortbedingungen?

Dies wäre eine Auslegung ohne Berücksichtigung des ›Vielleicht‹ im Titel. Blendet man das aber ein, dann bekommt das Ensemble noch eine andere Aufladung, die man allerdings auch rein aus der Anschauung erschließen kann. Denn sind diese Stämme nicht auch wie menschliche Leiber, sieht man da nicht Rumpf und Schultern, Rücken und Brust, erkennt man nicht gar Kopf und Hals? Selbstverständlich, das bleibt leise und muß aus dem Knorrigen dieser eisernen Körper mit Phantasie herausgelesen und -gesehen werden, etwa so wie Leonardo da Vinci in verwitternden Mauern Figuren erkannte.

Ist das richtig, dann erscheint in diesem Ensemble zusammen mit der Darstellung von Naturkräften das Schicksalhafte des menschlichen Daseins, erscheinen Freiheitsdrang und dessen Behinderung, Bedürfnis nach unbedingter Entfaltung und deren Einengung.

Derlei ist undenkbar ohne historische Vorläufer. Es sei erinnert an die Arbeit, in der etwa bei Jacob van Ruisdael (1626–1682) Bäume wie menschliche Wesen erscheinen oder bei Caspar David Friedrich (1774–1840) Bäume als melancholische Zeichen für menschlich Existentielles; und auch sei erinnert an die Doppel- und Mehrdeutigkeiten der Plastiken von Alberto Giacometti (1901–1966) oder von Joseph Beuys (1921–1986), wo das sichtbar Gegebene zum Auslöser wird für lange und komplexe Assoziationsketten, die aus der Nähe der persönlichen Erfahrung in die Ferne des Generellen und Allgemeingültigen führen.

Vielleicht ein Baum ist eine herbe Arbeit. Dramatisch und still, pathetisch und verhalten – so wie die Perspektiven der Sicht wechseln, so auch die Möglichkeiten der Auslegung. Ganz anschaulich aber handelt es sich hier um eine Existientielles berührende Symbolik. Es geht um die Formulierung von Stärke und Schwäche (physisch und psychisch), von Mit- und Gegeneinander, es geht um das ununterbrochene, anhaltende Drama des Lebendigen und – für den Künstler – darum, das alles in Material zu erarbeiten, damit es sich zeigt.

Karlheinz Nowald

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