Thomas Lehnerer
Armer Mensch
26 × 10 × 4 cm | Bronze
Höhe des Eisenstabs 93 cm
Thomas Lehnerer
*1955 in München
†1995 in München
Die Bronzeplastik »Armer Mensch« von Thomas Lehnerer im ›Tal‹ provoziert in ihrem überraschenden Auftauchen am Ende eines schmalen Pfads die Reflexion von Standort und Weg. Beides ist für das Verhältnis der Plastik zur umgebenden Natur maßgeblich und begründet die spezifische Atmosphäre am Ort. Vorherrschend hier ist eine meditative Stille, auf die der hinführende Weg des ehemaligen Mühlengrabens vorbereitet. Zudem bestimmend ist eine große Eiche, die sich am Wegrand oberhalb des tiefer gelegenen Tals gegen die Weite der Landschaft abhebt. Vor ihrem Stamm ist die Plastik platziert. Es handelt sich dabei um eine kleine, auf einem Metallstab aufgesockelte Bronzefigur.
Ihr anonymes Erscheinungsbild hängt mit der nicht ins Detail gehenden Formulierung der Gesichtszüge sowie der Gliedmaßen zusammen. Die bewegte Oberflächenstruktur – im Licht-Schatten-Spiel an Werke von Auguste Rodin, Antoine Bourdelle und Alberto Giacometti erinnernd – bildet lebendige Kontraste zur Leere der angedeuteten Augenhöhlen. Insgesamt erscheint das Werk in seiner Körperlichkeit geschlossen; raumgreifende Gesten gibt es nicht.
Um so deutlicher ist die Präsenz des Statischen und in sich Ruhenden. Ähnlich dem Monument, und gleichsam in Umkehrung seiner traditionellen Größendimension, entwickelt die Figur ein Potential der Erinnerung und Mahnung; in Bronze verkörpert, weist es auf den Menschen in seiner leiblichen Existenz und betrifft darin unmittelbar: Der eigene Leib wird als Möglichkeit und Grenze des Lebens bewußt.
So erscheint die Bronzefigur wie ein Spiegelbild, an dem der Betrachter sich am Ende eines Weges erkennt. Als Gegenüber bringt sie ihm seine körperliche Bedingtheit zwischen Leben und Tod vor Augen, ohne wirklich lebendiger Körper oder tatsächliches Skelett zu sein. Vielmehr ist im Erscheinungsbild des »Armen Menschen« die Ambivalenz der Anspielung materialisiert, nicht einzig und allein um Eindeutigkeit zu vermeiden, wohl aber um im letztlich Vieldeutigen das Wesen menschlicher Existenz zu entdecken. Daraus resultiert der zugleich demütige und triumphierende Charakter des Werks, dem der Betrachter mit Ehrfurcht und Hinnahme begegnet.
Daß die Figur zudem auf einer Metallplatte steht, erhöht den Präsentationscharakter des Veranschaulichten: Der »Arme Mensch« ist unmißverständliches Beispiel seiner Art. Und in dem Maße er vorgeführt wird, im gleichen Maße widerspricht er durch Entzug seiner körperlichen Präsenz: Die schrundige Oberfläche der Bronze ähnelt dem borkigen Eichenstamm in einer Art, daß Figur und Baum optisch miteinander verschmelzen; die Materialität der Figur droht sich zu verlieren. Eine Rückkehr des Körperlichen ins Elementare der Natur ist angedeutet. Dennoch unterscheidet sich die Bronze gerade auch aufgrund ihrer Stofflichkeit wesentlich von der umgebenden Natur und bewahrt darin eine, wenn auch anonyme Identität. Anders formuliert könnte man sagen, daß die Gestalt zwar wie ein der Natur Zugehöriges erscheint, nicht aber ein mit ihr Identisches ist und dem Betrachter insofern als Anderes der Natur begegnet. Auch die geringe Größe der Bronze wirkt in diesem Sinne: Durch Verzicht auf den großen Maßstab ist dominantes Verhalten gegenüber Natur und Betrachter ausgeschlossen. Als der Umgebung vielmehr eingepaßt, wird die Figur zur Kreatur: Nicht wirklich menschlich ist ihr Bild, und ebensowenig ist sie Tier oder Pflanze. Aber sie hat jene ausdrucksintensive Elementarität, die sie gleichermaßen als Lebewesen und Teil der Natur auszeichnet.
Darüber hinaus kann der kleine Maßstab auch als Anspielung darauf verstanden werden, was der Betrachter wenige Schritte nach Verlassen des Ortes am eigenen Leib verspürt. Angesichts der sich rechterhand öffnenden landschaftlichen Weite werden Individualität und Körpermaß empfindsam gering. Eine Relativierung eigener Bedeutsamkeit setzt ein, die Emotion und Intellekt in gleicher Weise betrifft. So erkennt der Betrachter im Rückblick auf Weg und Ort in der Bronzeplastik von Thomas Lehnerer ein Wegemal, das die eigene Befindlichkeit in Natur und Landschaft thematisiert und darin die Präsenz des Existentiellen entwickelt.
Claudia Posca