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Norbert Radermacher

Der Ring

1995
Ringdicke 17 cm | Außenmaß Ø 110 cm
Eisen verzinkt, mit Blattgold belegt

Norbert Radermacher
*1953 in Aachen
lebt in Berlin

››› http://www.norbertradermacher.de/

Reden ist silber?

Ich gehe, gehe durchs grüne Tal, bewege mich nördlich, flußaufwärts. An der östlichen Flanke des ›Tals‹ und in seiner Nord-Süd-Erstreckung, etwa auf halbem Weg, treffe ich auf eine Baumgruppe, die mit einer annähernd geschlossen Kontur ein Kreissegment in die Landschaft setzt. In der Krone des zentralen Baums, einer dreistämmigen Eiche, blitzt durch das Grün der Blätter ein goldenes Etwas. Ich setze meinen Weg unterhalb der Baumgruppe fort und kann es bald als Ring bestimmen. Ein goldener Ring in der Krone einer Eiche. Dieses Bild überrascht. Es scheint vollkommen neu und dennoch fühle ich mich durch seine Poesie und Zeichenhaftigkeit zugleich erinnert. Woran?

Radermachers Arbeit ist einteilig, doch was wäre »Der Ring« ohne das Umfeld seiner Präsentation? Aus seinem Kontext isoliert wird »Der Ring« zu einem schweigsamen Objekt. Goldene Ringe sind uns in der Größe von Fingerringen vertraut. Durch den verschobenen Maßstab wird eine Verfremdung wirksam, die das Objekt aus den alltäglichen Relationen der Umgangswelt befreit und in Verbindung mit seinem landschaftlichen Kontext neue stiftet. Der Gegenstand eröffnet in Korrespondenz mit seinem unerwarteten Ort einen Spielraum für Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen und Empfindungen. Für Beziehungen also, die zwischen dem Betrachter und dem durch das künstlerische Objekt geschaffenen Raum liegen und ›Interesse‹ erzeugen.

Der goldene Ring schmückt die Eiche und hebt sie damit aus der Vielzahl der Bäume im ›Tal‹ hervor. Ich bemerke, daß es sich um ein besonders schönes Exemplar handelt, das seine Äste kraftvoll nach außen streckt. Doch schon im nächsten Moment vermag der Vorgang des Heraushebens dieser bestimmten Eiche, die Augen für die Spezies als Ganzes zu öffnen: ins Bewußtsein gerückt werden Vitalität und Dauer der in ›Jahresringen‹ wachsenden Art, die als im Doppelsinne ›überragende‹ pflanzliche Lebensform Landschaften prägt. Bäume vermitteln zwischen Himmel und Erde. Durch die der Arbeit eigenen Blickführung hoch in eine von Himmel umfangene Baumkrone, findet diese Beziehung ihr Bild. Der in seinem Maßstab auf die Größe des Baums abgestimmte Ring suggeriert seine Zugehörigkeit, die in der realen Erfahrungswelt jedoch keine Entsprechung findet. Durch ihr ungeahntes Zusammenspiel fühlt man sich dem Ursprung von Poesie nahe, verstanden als Hervorbringen und Geschehnis und nicht als pures Machen.

Vom Ring, so im Baum hängend, geht etwas Magisches aus. Er läßt mich an Märchen denken, die ihm Zauberkraft zusprechen. Dazu gehört, daß er an seinem luftigen Ort vielleicht bislang unbemerkt, so doch als schon immer da gewesen scheint. Man möchte ihn eher als ›Zeichen von oben‹ sehen. Wir wissen: auf die Erde gebracht, hätte er seine Aura verloren.

In unserem Kulturkreis steht der goldene Ring als Zeichen eines geschlossenen Bündnisses. Es stellt sich die Frage, was für ein Bündnis und wer es mit dem Baum eingegangen sei. Ich lese nach und stoße darauf, daß im Mittelalter bei der Übereignung von Grundstücken ein goldener Ring übergeben wurde. Der Besitzer des Rings war dann auch rechtmäßiger Eigentümer des Grundstücks, und man möchte hinzufügen der darauf stehenden Bäume. In dieser Hinsicht scheint das Eigentum an den Baum zurückgegeben. Man könnte es als Hinweis darauf nehmen, daß Bäume immer auch sich selbst gehören. Der Ring ohne Anfang und Ende symbolisiert Zeit und ihren Kreislauf in Jahreszeiten. Ich stelle mir den Ring im Winter vor. Nun hängt er weithin sichtbar im kahlen Geäst, dabei nicht minder geheimnisvoll. Man kann in diesem Ring eine raum-zeitliche Zentrierung des ›Tals‹ erblicken.

Auch wenn der Künstler nicht all diese Dinge im Sinn hatte, als er der Eiche einen goldenen Ring hinzufügte, so sind sie doch Teil des Konzepts, in dem Radermacher hier ebenso wie in seinen für den Stadtraum entstehenden Arbeiten, Gegenstände wählt, die in zahlreichen Kulturen und Epochen präsent sind und so in unterschiedlichster Weise zum ›gedanklichen Auffüllen‹ anregen.

Christiane Schön

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