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Tilo Schulz

ohne Titel

2006
12 Holzkugeln ∅ 42 cm
Eiche, Stahl, Heckenkirsche

Tilo Schulz
*1972 in Leipzig
lebt in Berlin

››› https://www.tiloschulz.com

A Portrait of the Artist as a Young Man
Oder: Auch bei Tilo Schulz ist der Ball rund!

2006. Zwölf Holzkugeln – Durchmesser: 40cm – stehen auf zwölf Stahlstangen in einer Senke zwischen Straße und Bachlauf. Die Stangen wird man in einigen Jahren nicht mehr sehen, wenn der Unterwuchs sich bis zu den Kugeln hochgearbeitet haben wird; dann liegen die hölzernen Kugeln auf einem grünen Pflanzenbett auf.

2006. Auf jeder der zwölf Kugeln findet sich ein Schriftband – wie ein Äquator. Die Schriften sind gut zu lesen, zumal man nahe herantreten kann. In einigen Jahren werden diese Schriften verwittert sein, die perfekte Kugelform wird sich dann ebenfalls beginnen aufzulösen und vielleicht wird der Unterwuchs sogar den Rest überwuchern.

2006. Tilo Schulz realisiert diese Arbeit im WM-Jahr 2006 ›im Tal‹. Der Ball, um den sich alles dreht, steht auch auf einer der Kugeln (Adidas WM-Ball Teamgeist). Tilo Schulz wird in diesem Jahr 34, er ist Künstler und war eben auch mal ein junger Mann. Ulysses – eine weitere Referenz von einer der zwölf Kugeln – erweist sich bei der Internetrecherche nicht als Referenz an den großen Jahrhundertroman von James Joyce, sondern als Unterwäschekollektion von Olaf Benz. Vermutlich die bevorzugte Kollektion des Künstlers? ‚Mit oder ohne Eingriff’ scheint hier weniger wichtig zu sein, eher schon die exzentrische Reliefstruktur des Stoffs und der braune Grundton, der gut zu den Holzkugeln passen würde. Wenn das Regalsystem zu-griff Rückschlüsse auf die bevorzugten Formen des Wohnumfelds zulassen sollte, dann spricht dieses System von quartier vier allerdings eher für eine favorisierte formale Strenge. Diese wiederum bestimmt auch den Blick aus der Ferne auf die Skulptur ›imTal‹. Aus der Ferne nämlich ist noch nichts von den textlichen Referenzen zu erahnen. Allein die perfekte Form der zwölf Kugeln auf dem streng geschnittenen Pflanzenbett lockt den Besucher zum Näher-Kommen.

Aus der Nahdistanz wird der Formalismus durch die Aufschriften gebrochen. Man kann sich dem Lesen nicht mehr entziehen. Es wird schnell deutlich, dass neben den drei bereits genannten weitere Referenzlinien in Richtung Politik/Zeitgeschichte, Kunst, Film und Musik angelegt sind. Einiges kennt man, anderes glaubt man zu erinnern, manches muss man sich im Nachgang am Rechner oder in der Bibliothek erarbeiten. Was man erinnert oder findet, kann einen thematisch doch wieder bei Joyce’ Jugendroman landen lassen, so z.B. Kathy Ackers Buch Pussy, Königin der Piraten oder das Beach Boys-Album Pet Sounds oder auch der Film The Virgin Suicides von Sofia Coppola, die alle zu unterschiedlichen Zeiten den Grenzgang zwischen Kindheit/Jugend und Erwachsen-Werden bearbeiten. Das Nachforschen kann aber auch ein Schmunzeln in den Mundwinkel treiben, etwa wenn man sich zuhause noch mal den Kultsong der Vegetarier Meat is Murder von The Smiths auflegt und sich der prachtvollen Kühe erinnert, die um die Holzkugeln herum grasten, als man die Aufschriften transkribierte. Auch kann es auf dem Rückweg nach Köln passieren, dass man die rot beleuchteten Wohnmobile und Hauseingänge entlang der B8 zählt und dabei die grandiose Installation Warte mal! der schwedischen Künstlerin Anne-Sofi Sidén erinnert, die 2003 im Kölnischen Kunstverein im Rahmen des Projekts ›Migration‹ zu sehen war (erstmals 1999 in der Wiener Secession). Die Arbeit basierte auf einer neunmonatigen Recherche mit der Videokamera im deutsch-tschechischen Grenzgebiet – ihr Thema: Massenprostitution.

Lässt man sich solchermaßen auf die Aufschriften der Kugeln ein, lässt die ATTAC-Vizepräsidentin Susanne George ebenso an sein Ohr wie die Friedensnobelpreisträgerin von 2003 Shirin Ebadi oder die Cyberfeministin Sadie Plant, dann öffnet sich so etwas wie ein Archiv, ein Puzzle, das ein Gedanken- und Empfindungsgebäude entwirft. Es wirkt sehr jung – trotz der Pet Sounds, einer immerhin zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit bereits 40 Jahre alten Platte; aber schließlich steckten wir ja 2006 bereits seit einigen Jahren im großen Revivalkult.

2031. Die zwölf Schriften markierten damals offensichtlich ein Jetzt. Aber war das ein allgemein gültiges Jetzt auf Basis empirischer Erhebungen zum Zeitgeist? Unmöglich! Es war ein extrem subjektiv geprägtes Jetzt, eine Ich-Setzung, ein Portrait des Künstlers. Sympathischer Weise war dieses Portrait nicht in Stein gemeißelt und nicht in Bronze gegossen (der Auftraggeber ›im Tal‹ arbeitete ja schließlich auch zumeist mit Holz). Auch waren die Informationen nicht im Innern der Kugeln wie in einem Grundstein oder in den Kugeln von Kirchturmspitzen für die Ewigkeit aufbewahrt. Ganz im Gegenteil waren sie der Witterung bewusst ausgesetzt, waren die Holzkugeln nicht einmal imprägniert. Die Informationen mussten so mehr und mehr verschwinden, waren zwischenzeitlich vielleicht noch einige Jahre erahnbar, sind jetzt aber endgültig unleserlich.

2031. Es war also in jeder Hinsicht ein vergängliches Portrait, dessen Inhalte sich offensichtlich nicht nur für den Besucher, sondern auch für den Künstler selbst ändern konnten. In diesem so temporären „Privatarchiv“ ging es Tilo Schulz scheinbar weniger um verewigen, als um das Zulassen von Verfall. Diejenigen, die sich sein (?) Portrait in den Jahren nach seiner Erstellung erarbeitet haben, werden es nun vielleicht noch erinnern, es gegebenenfalls den Zu-spät-Kommenden mündlich überliefern.

Falls Sie vor Ort vergessen haben sollten mitzuschreiben – oder aber zu spät dran waren, hier die Aufschriften, die auf den zwölf Kugeln 2006 zu lesen waren – quasi als Basis ihrer ganz persönlichen Nacharbeit: Kathy Acker: ›Pussy, Königin der Piraten‹ / The Smiths: ›Meat is Murder‹ / Beach Boys: ›Pet Sounds‹ / Quartier vier: ›zu-griff – Regalsystem‹ / Susan George: ›The Lugano Project‹ / Adidas: ›WM-Ball Teamgeist‹ / Takeshi Kitano Zatoichi: ›Der blinde Samurai‹ / Olaf Benz: ›Ulysses‹ / Ann-Sofi Sidén: ›Warte mal!‹ / Sofia Coppola: ›The Virgin Suicides‹ / Shirin Ebadi: ›Menschenrechte‹ / Sadie Plant: ›Nullen und Einsen‹.

Jörg van den Berg

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